Warum das „Spectaculum” in Göttingen wieder hunderte Mittelalter-Fans begeistert hat
Am Wochenende sind die Besucherinnen und Besucher des „Spectaculum Pfalz Grona“ in Göttingen aus ihrem Alltagstrott in eine andere Welt eingetaucht. Auf dem Mittelaltermarkt in der Weststadt gab es Bogenschießen und Balkenkämpfe, Hexenkraut und Met. Ein Fest für die Fantasie.
Göttingen. Zwischen den Bäumen, von dessen Blättern der Wind die letzten Regentropfen bläst, wechseln kleine und große Mittelalter-Fans die Perspektive auf ihre gewohnte Welt. Viele fasziniert der Ausflug in die rustikal-romantische Vergangenheit bei diesem Fest mit „Gaumenschmäusen“, handwerklichen Fertigkeiten und handfesten Begegnungen auf dem Göttinger Hagenberg.
Der Nachbarschaftsverein Holtenser Berg-Hagenberg, die Sportgemeinschaft Grün-Weiß und der Bürgerstammtisch haben am Wochenende die zweite Auflage des „Spectaculum Pfalz Grona zu Goettingen“ veranstaltet. Der Eintritt zum Familienfest war erneut frei.
Den historischen Rahmen für das Spectaculum mit Bogenschießen und Balkenkämpfen, Hexenkraut und Met bietet eine nicht mehr zu sehende Burganlage mit erster Erwähnung um 915: In der Pfalz Grona haben sich nach Angaben der Veranstalter zwischen 941 und 1025 Kaiser und Könige die Eisenringe am Burgtor in die Hand gegeben. Kaiser Heinrich II. ist hier im Sommer 1024 gestorben.
„Mittelalter kennen wir noch aus der Grundschule“, sagt Rosi. Die Elfjährige und Freundin Nastja (11) sind aus der Nachbarschaft auf den Festplatz spaziert. „Ich finde toll, dass man hier so viel erleben und sehen kann“, sagt Rosi. Erlebt hat sie gerade das Vergnügen beim „Anti-Tauziehen“ – hier gewinnt nicht der Stärkere, sondern die mit mehr Geschick.
Die Mädchen stellen sich auf zwei gegenüberliegende, gut 50 Zentimeter kurze Balken, die auf der unebenen Wiese nicht gerade Standfestigkeit versprechen. „Wer zuerst das Seil loslässt oder vom Klotz heruntergeht, verliert“, erklärt Torsten Lehmköster die Regeln. Ein bisschen Zerren reicht schon, um aus dem Gleichgewicht kommen zu können.
Das Markttreiben auf dem Hagenberg ist eine Attraktion für kleine und große Mittelalter-Fans.
Lehmköster gehört zur Göttinger Mittelalter-Gruppe „Geri’s Volk“. Mehrere Mitglieder sind vor Ort, haben unter anderem einen Bogenschieß-Stand aufgebaut. Als Lehmköster Emely Ruge auffordert, mit einem Pfeil auf ihren Freund Benjamin Richter zu schießen, zögert sie, obwohl die Spitzen von Geri’s Volk durch einen dicken schaumstoffartigen Aufsatz „entschärft“ worden sind. „Das mache ich nicht.“ Die 25-Jährige möchte einen richtigen Pfeil – mit dem sie zehn Meter entfernt baumelnde Säcke anbohrt.
Göttinger Mittelalter-Fan: „Mit Axt und Schwert – ein Kindheitstraum“
Richter und Ruge sind eigens aus dem Wartburgkreis angereist. „Wir sind vom Mittelalter fasziniert, waren schon auf einem Fest auf der Kreuzburg bei Eisenach“, sagt er. „Räuberlager, Lagerfeuer – eigentlich das ganze Flair und Ambiente hat es uns angetan. Ist viel besser als ins Kino zu gehen.“
Lehmköster empfindet ähnlich und ist im „Volk“ noch näher dran an den zugeschriebenen Vorzügen der beliebten Epoche: „Mit Axt und Schwert durch die Gegend zu laufen, ist mein Kindheitstraum. Wir sind den ganzen Tag draußen, treffen Leute und sitzen zusammen am Lagerfeuer.“
Aufdringliches Frettchen erschreckt Elfjährige
Rosi und Nastja sind inzwischen am Stand von Falkner Detlev Kerkmann angekommen, der auch einen Wüstenbussard mitgebracht hat. Der Mann überreicht Nastja ein Frettchen. Das hat Krallen, und die bekommt das Mädchen zu spüren. Bei der Übergabe des gezähmten Iltisses an Freundin Rosi scheint das possierliche Tierchen etwas zu viel Zuneigung am Hals der jungen Hagenbergerin zu zeigen: Sie schreckt zurück.
„Hat es gebissen?“, fragt der Falkner. „Nein, nichts passiert.“ Außer der kurzen Aufregung – und die überträgt sich aufs Publikum. Mittlerweile hat sich beim Falkner ein mittelgroßer Auflauf entwickelt.
Mittelalterliches Kugelspiel fordert vierjähriger Göttingerin alles ab
Anders als beim Anti-Tauziehen muss die vierjährige Hannah beim Kegeln mächtig Kraft aufbringen. „Die Kugel ist so schwer“, sagt sie nach dem Akt auf der Bahn, auf die sie ausnahmsweise durfte, um auf halber Strecke das Ding ins Rollen zu bringen.
Haben die Menschen im Mittelalter gekegelt? „Ich glaube, da wurde eher geboult“, meint Marianne Bause mit Hinweis auf das Spiel Boccia. Die 76-Jährige ist „Kegel-Mutter bei Grün-Weiß“ und zuständig für die Aufsicht an der Bahn. Gekegelt wurde trotzdem: Archäologen haben die Spielerei im 12. Jahrhundert in Süddeutschland nachgewiesen.
Mittelalter bedeutet für mich: Hier fühle ich mich zu Hause
50 Meter entfernt freuen sich Anne (25) und Christian (40) am Spirituosenstand über ihre Neuerwerbung, eine Flasche Haselnusslikör. Die beiden sind in Pluderhose und Bauwollkleid gewandet. Sie trägt ein Fuchsfell und er das eines „Bastards aus Silber- und Graufuchs“ auf den Schultern. Beide sind Helfer auf dem Fest. „Mittelalter bedeutet für mich: Hier fühle ich mich zu Hause“, sagt die Göttingerin. „Den Kopf abschalten, nicht an den Alltag denken, eine schöne Zeit verbringen“, verbindet der Mann aus Bielefeld mit der Epoche.
Der von Krankheiten gezeichnete Lumpen Öhi mischt sich unters Volk.
Lumpen-Öhi kreuzt die Wege von Festbesuchern auf dem Göttinger Hagenberg
In der Mitte des Festplatzes kreuzt der „Lumpen-Öhi“ die Wege der Besucher. „Man dichtet mir Krankheiten an“, sagt er, und sieht auch so aus. Der Haderlump-Darsteller mit einem Schrumpfkopf aus Kokosnuss in der Hand ist aus Celle auf den Hagenberg gekommen, auf dem die Organisatoren Thomas Danneboom im echten Kaninchenfell eines fahrenden Händlers und Christoph Jess in der Kutte eines Bettelmönchs das rege Treiben beobachten.
Göttingen: Spectaculum-Organisatoren wollen Burg Pfalz Grona ausgraben
„Meine Vision ist, die Sichtbarmachung der unter der Erde liegenden Burg Pfalz Grona und der Bau eines kleinen Museums“, sagt Danneboom. „Ein Ort, den auch Touristen besuchen können“, ergänzt Jess. Um dieses Ziel zu erreichen und die Geschichte von Kaiser Heinrich II. und Gemahlin Kunigunde weitererzählen zu können, dient das mittelalterliche Familienfest, betonen die beiden.
Die Stände stehen unter schattigen Bäumen.
An fast 50 Ständen werden Mitmachaktionen, vor allem für Kinder, sowie unter anderem handwerkliche Produkte und, wie Danneboom sagt, „würstliche Gaumenschmäuse“ angeboten. Zum jeweiligen Abschluss stehen an beiden Tagen leise und laute mittelalterlich angehauchte Klänge der Bands Rabenweiß, In Ora Mundi, Taurus Ferus und des „kaiserlichen Lautenisten“ Andreas Düker auf dem Bühnenprogramm.
Quellen: Niklas Richter & Stefan Kirchhoff, GT vom 15.9.25

Bild: Die Organisatoren Thomas Danneboom (rechts) und Christoph Jess mit Kaiser Heinrich II. und Gemahlin Kunigunde.